Freuen Sie sich auch, dass in den Gottesdiensten der Stadtkirche die FFP2-Maske nicht mehr verpflichtend ist, sondern nur noch empfohlen wird und es auch die schrecklichen Schilder „Bankreihe gesperrt“ nicht mehr gibt? Ich bin dankbar, dass wir wieder singen dürfen, am Sonntag „Kantate“ (15. Mai) vielleicht sogar ohne Maske.

Zu diesem Sonntag „Kantate“ hat Professor Dr. Martin Rößler einen bemerkenswerten Artikel geschrieben, den wir hier veröffentlichen dürfen.

Prof. Rößler war u.a. Musikdirektor am Evangelischen Stift in Tübingen und lehrte an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen die Fächer Liturgik und Hymnologie. Vor allem ist er aber als führender Mitarbeiter am Evangelischen Gesangbuch, als Autor von Biographien von Gesangbuch-Melodisten und –Dichtern sowie durch seine Liedpredigten bekannt geworden.

Heute lebt der 88jährige in Bronnweiler bei Reutlingen.


„KANTATE - SINGET!“

Singen ist allen Menschen schon elementar vorgegeben im Atem, im Pulsschlag,

in der Bewegung; eine schlichte Beigabe unsres Schöpfers, fast unbewusst spontan und absichtslos kreativ. Singen als Sprache der Seele pendelt zwischen Lachen und Weinen; es spiegelt die Emotionen von „Stimmung“: innere Gelöstheit und große Freude, oder die Gefühle von „Unstimmigkeit“: Wehklage bei Verlust und Angst vor Gefahr. Wenn zum Ton das Wort hinzukommt - Luther liebt den Stabreim „Singen und Sagen“ -, dann kann das Singen Kommunikation und Kontakt aufnehmen, und es tut dies auf besonders nachdrückliche Weise: Singen überschreitet jede gängige, normale Information. Zu Gott gewendet, kann Singen Gebet und Anbetung bedeuten. An unsre Mitmenschen gerichtet, signalisiert es Zuspruch und Zuneigung. Im gemeinsamen Singen vertieft es die Solidarität und Vitalität einer Gruppe, wie es bei jedem Fest zu beobachten ist.

Die christliche Kirche ist von Anfang an eine singende Kirche gewesen. In den 150 biblischen Psalmen als dem Gesangbuch der altisraelitischen Gemeinde findet die christliche Ur-Gemeinde das Vorbild für Klage in der Not und für Lob und Dank zu Gott. Der Apostel Paulus berichtet von verschiedenen Gattungen: „Psalmen, Cantica, geistgewirkte Lieder“ (Kolosserbrief 4,16). Auf Bischof Ambrosius von Mailand um 380 geht der Hymnus als lateinisches Strophenlied zurück (Beispiel EG 4). Die Liturgie-Reform von Papst Gregor I. um 600 fördert die Vertonung eines vollständig gesungenen Gottesdienstes, ausgenommen nur eine kurze Wort-Predigt. Martin Luther verankert um 1525 das volkssprachliche Lied im Gottesdienst als unverzichtbares Element der Mündigkeit der Gläubigen. Mit seinen eigenen 37 Liedern gibt er Beispiele, wie in der Folgezeit alle Stile der Musik und alle Arten von Dichtung zum geistlichen Singen und Sagen beitragen könnten. Aus diesem jahrhundertealten, unerschöpflichen Fundus kann ein jeweiliges Gesangbuch nur einen winzigen Ausschnitt bieten.

Wesen und Wirkung des geistlichen Liedes als wichtige Lebensäußerung möchte ich nun mit einigen Merkmalen umschreiben.

  1. Gesungene Bibel.

    Die Heilige Schrift provoziert und produziert geradezu das christliche Liedgut. Wie ein Leitmotiv erklingt durch die ganze Bibel hindurch der Imperativ: „Kantate - Singet!“: „Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder“ (Psalm 98,1). Luther begreift dies als explizites Einsetzungswort für das Lied im Gottesdienst und in allen Lebenslagen, und seine Bibelübersetzung erweist sich als Schatzkammer für viele Worte und Bilder im Lied. Das Lied stellt sich somit in den Dienst des Wortes Gottes; es leitet sich von ihm ab und führt zu ihm hin. Die Bibel legitimiert das Lied, und das Lied interpretiert die Bibel. Auf dieser Wechselwirkung beruht seine geistliche Wirkung. Im Liedtext ist eine biblische Aussage meist griffiger, verständlicher, jedenfalls unsren Glaubenserfahrungen näher ausgedrückt. Und damit könnte ein Lied wiederum zum Blickfang und Wegweiser, zur Tür und zum Schlüssel für das Verstehen der Bibel werden.

  2. Klingendes Kirchenjahr.

    Im Gottesdienst hat das geistliche Lied seine Heimat gefunden. Damit bietet es der Gemeinde die Möglichkeit zum Mitgestalten und Miterleben dieser sonntäglichen Veranstaltung, und gerade das Lied macht den Sonntag zu Fest und Feier. Es prägt durch Wort und Ton den Charakter der verschiedenen Kirchenjahrs-Zeiten: das freudige F-Dur der Weihnachtszeit, das Moll der Passion, das kräftige kirchentonartliche Dorisch der Ostertage. Gerade den Christus-Festen verleihen die Lieder einen verklärenden und erhebenden Glanz, der bis in die Öffentlichkeit ausstrahlt. Eine Weihnachtszeit ohne die dafür entstandenen Lieder? Unmöglich! Besonders mit dem Weihnachtslied verbindet unsre säkulare Welt immer noch - und alle Jahre wieder - eine gewisse Erinnerung an Gottes Taten in Schöpfung, Erlösung und Vollendung; schlummernde Rudimente aus früheren Erinnerungen können durch ein geistliches Lied in Wort und starker Emotion wieder zum Leben erweckt werden.

  3. Tönende Lehre.

    Geistliche Lieder haben immer eine Absicht: Sie wollen etwas aussagen und bewirken. Sie variieren die grundlegenden Fakten unsres Glaubens und beleuchten sie von den verschiedensten Seiten. Sie haben gedankliche Prägnanz, setzen aber nicht etwa ein Dogma oder eine bestimmte Theologie in Vers und Reim um. Lieder bieten gewisse Grund- oder Obertöne, oft sprachlich-biblisch oder poetisch-bildlich ausgeformt. Vor allem ist ein Lied gefüllt mit erlebten oder erlittenen Erfahrungen der Dichterinnen und Dichter. Ihr Glaubenszeugnis kann uns in einer ähnlichen Lage oder Stimmung zu Hoffnung und Vertrauen ermutigen. Das Lied als eine tönende Lehre hält zudem pädagogische Vorzüge bereit. Was in Versen, Rhythmen und Reimen stilisiert und noch dazu mit einer zünftigen Melodie versehen ist, das lernt sich leichter und behält sich länger; es lässt sich jederzeit aus dem Gedächtnis zum Gebrauch hervorholen und beliebig oft wiederholen. So prägt sich ein Lied ein und prägt damit die singenden Menschen.

  4. Seelsorgerliche Andacht.

    Ein geistliches Lied hat seinen Platz nicht nur in der Kirche, sondern es geht mit uns in den Alltag, in unser Haus und unsre Familie, in unsre eigene Lebensgestaltung. Wie gut, wenn wir auch daheim ein Gesangbuch zur Hand haben! Ein Morgenlied kann uns den ganzen Tag erträglicher machen; ein bekanntes Lied kann zum geeigneten Tischgebet werden; ein Lied stellt einen Rahmen bereit, wenn wir am Abend unsren Tag überdenken, und schenkt uns die geeigneten Worte, die wir in unsrer Sprachlosigkeit nachsprechen können. Es gibt Lieder für uns und unsre Kinder, wenn wir auf ihre bohrenden Fragen nach Gott und der Welt antworten sollen. Und wie oft ist ein Lied am Kranken- oder Sterbebett zum großen Tröster geworden! Ich wäre hilflos, wenn ich nicht ein Lied singen könnte, das in dieser Lage willig und gern angenommen wird. Oft kommt wieder zum Vorschein, was früher einmal auswendig gewusst und dann unbewusst in der Seele verborgen war. Im Singen wird dieser Schatz aktiviert und zugleich alte Erinnerungen ins Gedächtnis gehoben. Den alten, einsamen und kranken Menschen wird wieder die singende und betende Gemeinde präsent. Trotz Vergessen und Verdrängen ist ein geistliches Lied noch immer die Hauptquelle zu einem persönlichen Glaubensleben; es steht dem Pulsschlag des geistlichen Lebens besonders nahe.

  5. Lebendiges Kulturgut.

    Sonntag für Sonntag werden Lieder von der Gemeinde in der Kirche, Tag für Tag von Gruppen und Kreisen klingend veröffentlicht und durch den Gebrauch zum Leben erweckt oder am Leben erhalten. Werke der hohen Musikkultur oder Dichtung sind sehr viel seltener dargeboten, und wir können uns nur indirekt als Hörende beteiligen. Leider sind auch Volkslieder in Abgang gekommen; Gesangvereine oder Liederkränze, übrigens auch Kirchenchöre, sind überaltert oder mangels Sängerinnen und Sängern ganz aufgegeben worden - wer pflegt nun dies heimatliche Kulturgut? Überhaupt ist festzustellen, dass die Lust zum Selber-Singen fast erloschen ist. Viele Leute lassen sich eben aus Lautsprechern und Schallboxen musikalisch-textlich bedienen, natürlich in bester Qualität der Besetzung und Ausführung; sie summen höchstens mit oder reagieren mit ihren Bewegungen auf den Rhythmus. Viel befriedigender aber ist es - das gilt für jede Betätigung -, wenn wir selber als Person mit Leib und Seele beteiligt sind.

  6. Ökumenische Vielfalt.

    Ein geistliches Lied verzichtet in der Regel auf Polemik, Abgrenzung oder Beschimpfung. So singen wir heute ganz selbstverständlich Lieder, die früher als typisch „katholisch“ galten - eine wohltuende konfessionelle Ökumene. Inzwischen haben wir auch das Liedgut aus anderen Erdteilen bei uns aufgenommen: Spirituals, Gospelchöre, Lieder aus den Niederlanden oder Schweden in guten Übertragungen. So weitet sich der Horizont, macht uns sensibel für die Probleme der anderen, und wir können von ihnen Wege zur Bewältigung unsrer Glaubensfragen lernen - eine hilfreiche weltweite Ökumene.

Nun soll es genug sein mit „Kantate!“ Wichtig ist, dass wir nach allem Denken und Lesen selbst mit „Herz und Mund“ (Paul Gerhardt in EG 324) zum „Singen und Sagen“ kommen. Ich freue mich, wenn wir im Sommer in der Kirche wieder singen dürfen, ohne Maske, ohne das Verbot, ja keinen Laut von uns zu geben; wieder singen, dass die Gefühle und Emotionen hörbar werden, zu Gott hin und zu unsern Nachbarn auf der Kirchenbank. Das hat uns lange so schmerzlich gefehlt! Und ich freue mich, wenn wir in dem angedachten neuen Gesangbuch viele zeitgenössische, nun tatsächlich „neue“ Lieder finden, die uns Glaubenshilfe bringen und zum Gotteslob ermuntern.

Martin Rößler